[Aaus-list] Kommentar: Sind die rechtsradikalen Minister der ukrainischen Regierung "Faschisten"?

Andreas Umland andreumland at yahoo.com
Thu Mar 27 08:45:44 EDT 2014


Zur derzeitigen deutschen Diskussion um 
„Faschisten“ und „Neonazis“ in der ukrainischen Interimsregierung: 

Im 
alltäglichen öffentlichen Sprachgebrauch in Deutschland werden die 
Begriffe „Faschist“, „Nazi“, „Rechtsradikaler“, „Ultranationalist“, 
„Rechtsextremist“ usw. oft abwechselnd und deckungsgleich verwendet. 
Davor ist bezüglich der heutigen Ukraine zu warnen. Bei den Begriffen 
„Faschismus“ und „Nazismus“ handelt es sich sowohl in der Ukraine als 
auch in Russland um historisch aufgeladene Begriffe, die sich eindeutig 
auf das Dritte Reich und seinen Vernichtungskrieg (und weniger auf den 
italienischen Prototyp) beziehen. Diese Termini verbinden sich für viele
 Osteuropäer mit unmittelbaren Lebenserfahrungen ihrer Großeltern und 
anderen Familienmitglieder. Deutsche sind in den „Bloodlands“, nicht 
zuletzt in der Ukraine, für Millionen Morde, Verstümmelungen, 
Verschleppungen, Traumatisierungen usw. zwischen 1939 und 1945 
verantwortlich. Aufgrund dieser hohen historischen Hypothek sind nicht 
die Kritiker einer Verwendung des Faschismusbegriffs im 
Erklärungsnotstand. Vielmehr sind insbesondere deutsche, aber auch 
andere Beobachter, die solche historisch bedeutsame Konzepte verwenden, 
gehalten, ihre Kategorisierungen schlüssig zu begründen. So ähnlich wie 
in einem Gerichtsprozess: Die Anklage ist verpflichtet, ausreichende 
Beweise einer Schuld zu liefern. Bei Mangel an Beweisen wird der 
Angeklagte, in diesem Fall die rechtsradikalen “Swoboda”-Minister, vom 
Faschismusvorwurf freigesprochen. Der führende britische 
Faschismustheoretiker Prof. Roger D. Griffin (Oxford Brookes University)
 hatte bereits im Februar 2013 in einem Interview für die ukrainische 
Webseite Gazeta.ua ausdrücklich “Swoboda” gegen den Faschismusvorwurf 
verteidigt und die Partei als lediglich rechtspopulistisch und 
ausserhalb der faschistischen Tradition klassifiziert. Siehe: http://gazeta.ua/articles/people-and-things-journal/_svoboda-hoche-liberalnoyi-demokratiyi-ale-tilki-dlya-ukrayinciv/482119

Wenn
 offizielle Repräsentanten Deutschlands, etwa prominente Vertreter 
linker Parteien wie Günther Verheugen oder Gregor Gysi, im Bundestag, inFernsehsendungen, in der Presse usw. bestimmte Ukrainer vehement 
und wiederholt als “Faschisten” oder “Neonazis” bezeichnen und die 
Alarmglocke läuten, müssen sie belegen, warum eben diese 
Klassifikationen gerechtfertigt sind. Auf (a) welche 
Faschismusdefinition und (b) welche empirische Evidenz stützt sich die 
Klassifizierung der jeweiligen Person als „Faschist“ oder „Nazi“? Warum 
genau ist eine begriffliche Verbindung der ukrainischen 
“Swoboda”-Minister Sytsch (Vizepremier), Tenjuch (Verteidigungsminister, inzwischen entlassen) oder Machnizkij (Generalstaatsanwalt) mit Hitlers Regime und Politik gerechtfertigt? Wären bei einer hypothetischen 
vollständigen Machtübernahme dieser „Swoboda“-Minister in der Ukraine 
Totalitarismus, Konzentrationslager, Massentötungen, Deportationen, 
Expansionskriege usw. zu erwarten? Wenn dies aus den Reden und Schriften der jeweiligen Minister nicht geschlossen oder zumindest vermutet 
werden kann, dann sollten die Bezeichnungen „Faschist“ und „Nazi“ für 
diese Minister nicht gebraucht werden. (Man kann das allerdings 
womöglich für den „Swoboda“-Abgeordneten Mychaltschyschyn nachweisen.)  
Die „Swoboda“-Vertreter in der Regierung mögen nationalistisch, 
homophob, traditionalistisch, rechtsradikal usw. sein. So lange jedoch 
Sytsch, Mochnik oder Machnizkij nicht eindeutig als Vertreter einer 
gleichzeitig klar palingenetischen und tatsächlich 
ultranationalistischen Ideologie, so etwa die einflussreiche 
Faschismusdefinition Roger Griffins, identifiziert werden können, 
sollten gerade Deutsche vorsichtig mit dem Faschismusbegriff umgehen.
Die
 Ukrainer werden ansonsten aufgrund ihrer konkreten Erfahrung mit dem 
historischen deutschen Faschismus - z.B. ca. 5 Millionen Tote in der 
UkrSSR 1941-44 - nicht amüsiert sein. Deutsche Politiker und Publizisten
 müssen schon eine empirisch und komparatistisch einwandfreie Begründung
 liefern, wenn sie den Faschismusbegriff für konkrete ukrainische 
Regierungsmitglieder verwenden. Sonst würde verwundern, warum diese 
deutsche Kommentatoren aus der heutigen rechtsradikalen 
Regierungsbeteiligung in der Ukraine einen Sonderfall konstruieren, der sich von ähnlichen Erscheinungen in der EU, etwa in Italien,
 Polen, Österreich, der Slowakei oder im heutigen Lettland, prinzipiell 
unterscheidet. Derart schwere begriffliche Keulen könnten in der Ukraine
 als eine gezielte deutsche Unterstützung des Moskauer 
Informationskrieges und Expansionsstrebens bewertet werden (solches war 
bezüglich der Westukraine im übrigen schon einmal 1939-1941 der Fall). 
Weiteres in meinem Kurzbeitrag: Die ukrainische Verpflichtung 
Deutschlands.https://www.academia.edu/3639945/Die_ukrainische_Verpflichtung_Deutschlands

POST
 SCRIPTUM: Aus ähnlichen Gründen halte ich den Begriff „Faschismus“ für 
 ebenfalls ungeeignet zur Klassifizierung des Putin-Regimes. Freilich 
finden sich bei Putin schon eher einzelne Ideen und Praktiken, die an 
die Politik des Dritten Reiches erinnern - so etwa die Annexion der 
Krim, die an Hitlers Anschluss des Sudetenlandes erinnert. Zu Letzterem 
z.B.: Timothy Snyder: Crimea - Putin vs. Reality. http://www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2014/mar/07/crimea-putin-vs-reality/ Insgesamt ist der imperiale Nationalismus Putins jedoch eher 
irredentistisch, restaurativ und revanchistisch, als revolutionär und 
palingenetisch. Zur Diskussion um den Faschismusvorwuf bezüglich Putins 
Herrschaft - Abschnitt II der russischen Zeitschrift "Forum nowejshej wostotschnojewropeijskoj istorii i kultury", 7. Jg., H. 2 (2010): http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/forum/inhaltruss14.html

Andreas Umland
http://umland.livejournal.com/86570.html
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